Hat Sprache kein Geschlecht?
Was macht das mit uns: gendergerechte Sprache?
Kürzlich habe ich einen Text in gendergerechter Sprache Korrektur gelesen. Mit «Leser*innen» waren männliche, weiblich und diverse Lesende gemeint. Mit «Leserinnen*» all diejenigen, die sich vollständig oder vorwiegend weiblich fühlen. Und mit «Leser*» waren alle Lesenden gemeint, die sich vollständig oder vorwiegend männlich fühlen.
Da kam ich erstmal ins Stocken … Und dachte lange nach. Früher war mensch Mann oder Frau. Männer liebten Frauen. Frauen liebten Männer. Fertig. Heute gibt es Männer, die Männer lieben, und Frauen, die Frauen lieben. Zusätzlich gibt es Männer, die eigentlich eine Frau sind. Und einen Mann lieben. Oder eine Frau. Und Frauen, die eigentlich ein Mann sind und eine Frau oder einen Mann lieben. Manche streben eine Geschlechtsumwandlung an, um Körper und Seele in Einklang zu bringen, andere nicht. Schliesslich gibt es diejenigen, die beides sind. Und all diejenigen, die irgendwo an einer Zwischenstation auf dem langen und unsicheren Weg der Bewusstwerdung, des Coming-out oder der operativen Geschlechtsumwandlung verharren.
Ist es wirklich nötig, unserer Sprache solche Gewalt anzutun?
Ich fragte mich: «Muss das alles einen sprachlichen Ausdruck finden?» Muss man mich als Leserin mit diesen Details belästigen? Ich interessiere mich aktuell für den Inhalt dieses Textes – muss ich mir jetzt via Begriffswahl wirklich den Kopf zerbrechen über die Genderprobleme der Schreibenden?
Ich kam zu dem Schluss: ja, das muss sein. Denn Sprache bildet Realität ab. Oder versucht es zumindest. Und was wir nicht benennen, fristet ein kümmerliches Schattendasein. Es ist eine Realität, dass es Leute gibt, die ein Problem mit ihrem Geschlecht haben. Das war zwar früher kein Thema. Aber da gab es auch noch keine Aufklärung und keine Allgemeinen Menschenrechte.
Diese beiden Errungenschaften sind nämlich ein Grund dafür, dass Privilegien, die früher der Oberschicht vorbehalten waren, heute der gesamten Bevölkerung zustehen: das Recht auf körperliche Unversehrtheit, Absicherung vor Armut und Krankheit, Chance auf Wohlstand, freie Meinungsäusserung, Selbstverwirklichung, freie Berufswahl, Reisefreiheit und vieles andere mehr. So eben auch das Recht, sich im eigenen Körper zuhause zu fühlen.
Neues Selbstverständnis – neue Sprache
Früher haben wenige Privilegierte festgelegt, was als richtig und was als falsch galt. Diese Normen waren nicht für alle vorteilhaft, aber alle mussten sich ihnen unterordnen. Abweichungen gab es (scheinbar) nicht. Heute dürfen alle ihre Ansprüche anmelden, nicht nur die Oberschicht. Und es zeigt sich: die Menschen sind vielfältiger als die alten Normen uns glauben machten. Also müssen neue Normen ausgehandelt werden. Fünf Leute, sechs Meinungen … es öffnet sich ein riesiges Feld, von dem wir vorher nichts wussten. Zumindest diejenigen, die nicht persönlich betroffen waren.
Gendergerechte Sprache lenkt die Aufmerksamkeit auf etwas, das früher keine Aufmerksamkeit bekam, weil es als «Norm» galt, ein Mann oder eine Frau zu sein. Wenn keine der beiden Möglichkeiten passte, litt mensch still vor sich hin. Die Sprache durfte schön und geschliffen sein, den Menschen wurde Gewalt angetan.
Damit ist heute Schluss. Jede*r hat ein Recht auf persönliches Glück (so lange dabei niemandem geschadet wird). Das ist doch eigentlich schön. Da investiere ich doch gerne mal zehn Minuten oder mehr, um Begrifflichkeiten zu ordnen und zu verstehen. Es ist eine Bereicherung. Es ist die Einlösung eines Versprechens, das auch mir gilt: Alle haben das Recht, nach ihrer Fasson glücklich zu werden.
Aber bitte mitdenken!
Also: gendergerechte Sprache – willkommen! So lange nur niemand von «Mitglieder*innen» spricht. Denn das ist einfach nur Humbug. Warum? Auf www.genderleicht.de habe ich darauf eine sehr gute Antwort gefunden, siehe: Textlabor #18.
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